Früher im Atelier

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als mein Vater zu Hause malte, weil ein Atelier außerhalb zu teuer gewesen wäre. Damals - ich ging noch nicht zur Schule - wohnten wir in der Czeminskistraße in einer großen Wohnung im zweiten Stock. Das Haus war baufällig, unser Balkon konnte wegen drohender Absturzgefahr nicht betreten werden. Die Fassade war von Einschußlöchern zerstört und nach dem Krieg nicht mehr gestrichen worden.

Das Atelier meines Vaters grenzte direkt an das Schlafzimmer, man konnte aber auch durch eine kleine Tür, die sich links neben der Eingangstür befand, in das Zimmer gelangen. Diese Tür wurde aber so gut wie nie benutzt, weil sie durch Bilderleisten, Papierrollen und Tuben verbarrikadiert wurde. Wenn ich meinen Vater in seinem Atelier besuchte, stand er häufig einige Schritte vor der Staffelei. Er hatte die Augen leicht zusammengekniffen, um das Bild besser betrachten zu können. Wenn ich ihn in so einem Moment ansprach, reagierte er nicht. Er hörte mich gar nicht, war völlig in den Anblick des Bildes versunken.

Wenn meine Eltern abends ausgingen, wartete ich noch eine Weile und dann schlich ich ins Atelier. Ich schaltete nie das Licht an, eine Laterne vor dem Fenster sorgte für ein wenig Helligkeit und betrachtete das Durcheinander aus Farbtöpfen, Tuben, Spraydosen, Pinseln, Pulverfarben, leeren Eierkartons, Radierplatten, Zeitungsausschnitten und Keilrahmen. Zusammengebaute Objekte aus Holz, Gips und Fell lagen neben mit Draht umschlungenen Fundstücken. Mehrere angefangene, aber auch fertige Bilder lehnten an den Wänden. Mein Vater malte nie nur an einem Bild, sondern stets an mehreren und das immer abwechselnd. Wenn ich eine Weile in dem dunklen Raum gestanden hatte, konnte ich auf den Bildern Details erkennen. Ein Schwimmbassin prägte sich mir besonders ein. Es war ein großes Becken, das fast die untere Hälfte der Leinwand bedeckte. Im Hintergrund befand sich ein bungalowähnliches Haus. Der Pool war bis zum Rand gefüllt: Taucher, die ihre Gesichter hinter Gasmasken versteckten, lebende Gartenzwerge, gealterte Pin-up-Girls, mißgestaltete Babies und dazwischen zähnebleckende Mäuse.

Ich betrachtete das Bild wieder und wieder und hatte Angst mich abzuwenden. Ich fürchtete die Figuren würden die Leinwand verlassen, um mir zu folgen. Auch als ich schon längst wieder im Bett lag, blieb noch die Beklommenheit und das unbestimmte Gefühl, die Welt aus dem Atelier meines Vaters könnte wie eine Welle in mein Zimmer schwappen. Dennoch zog es mich regelmäßig wieder dorthin.

Pornographische Vorlagen, insbesondere die Genitalien eines gewissen „Long John Silver“ entsetzten mich derart, daß ich meinen Kissen alle Zipfel abschnitt. So hoffte ich, es würde mir gelingen, die Gestalten, die mein Vater schuf, zu bannen. Ganz sicher fühlte ich mich dennoch nicht. Vielleicht lauerten die Touristen mit den graublauen Taucherbrillen - die wie Stahlhelme im Krieg auf dem Kopf saßen - im Flur hinter dem Vorhang und warteten? Wenn Ruhe herrschte, meinte ich ihre Atemzüge zu hören. Ich hielt die Luft an. Im Vorbeischleichen beschäftigte mich der Gedanke, ob sie mich womöglich von hinten anspringen oder mit ihren spitzen Waffen verletzen würden. Damals machte mir sein Beruf Schwierigkeiten. Wenn man mich in der Schule nach dem Beruf meines Vaters fragte, und ich antwortete, er sei Künstler, bemerkte ich, daß sich die meisten Kinder nichts Konkretes darunter vorstellen konnten. Meine Freundinnen sagten, ich hätte es gut, mein Vater würde zuhause arbeiten. Sie verstanden nicht, daß er dort für mich genauso unerreichbar blieb und ebenso wenig Zeit für mich hatte wie ihre Väter in den Büros oder Fabriken. Wenn sie mich besuchten, warfen sie scheue Blicke auf die Bilder, auf fratzenhaft verzerrte Gesichter, kahle Häupter und deformierte Körper. Warum er keine schönen Dinge malt, wollten sie dann wissen, so etwas wie Blumen zum Beispiel.

Manchmal hatte ich es satt, anders als die anderen Kinder zu leben. Dann sehnte ich einen Vater herbei, der morgens aus dem Haus geht und abends zurückkommt, der gemeinsam mit meiner Mutter und mir etwas ißt, anstatt bis tief in die Nacht zu malen. Ich würde ihn Papa oder Vati nennen und ihn nicht beim Vornamen ansprechen. Wenn wir in den Urlaub fuhren, nahm mein Vater seine Kamera nicht mit, um obligatorische Familienfotos zu schießen - obwohl er das auch manchmal tat -, er war eher auf der Suche nach anderen Motiven: Steinerne Flügelwesen, groteske Wasserspeier oder entwurzelte Bäume.

Wenn mein Vater mir eine Schaukel an der Flurdecke anbrachte, wenn wir am vierundzwanzigsten Dezember gemeinsam eine Kiefer schmückten, wenn meine Eltern mir erlaubten in der Wohnung Rollschuh zu fahren, wenn wir am Meer ankamen, und mein Vater mit mir am Ufer aus schlammigen Sand eine Tropfenburg baute, oder uns ein Sonnendach aus Tüchern zwischen den Klippen spannte, unter das er sich zurückzog, nachdem er im Wasser gebadet hat, um zu zeichnen, war ich froh, daß er anders war als die anderen Väter.

Nina Petrick