Verrotung als Prinzip

Der Verrottungsvorgang ist das Darstellungsprinzip, das die Arbeit Petricks in ihrer Wirkung bestimmt. Selten vorher ist Verrottung mit solcher Eindringlichkeit künstlerisch durchgeformt worden. Im Dickicht der Städte ist Petrick ins Unterholz gekrochen. Schon in seinen zuletzt vor dieser Arbeit entstandenen Zeichnungen war Petrick dazu übergegangen, Materielteile von taktilem Reiz, Mull, Blätter, Federn etc. Seinen Zeichnungen einzufügen.

Das Thema Großstadt hat ihn dazu angeregt, aus der Gestaltung der Fläche herauszugehen und ein groß angelegtes Assemblage-Environment herzustellen, das in seiner Dichte und Vielgestaltigkeit kaum zu beschreiben ist. Das Zentrum der Ablage bilden zwei Kisten, zusammengebaut aus alten, z.T. angesengten und verkohlten Brettern. In der Mitte der einen Kiste baumelt, wie in einem modrigen Kellerloch, die Figur eines alten Mannes, mit Lumpen behängt, grausig anzusehen im Zustand seines lebendigen Totseins - ein höchst konkret und real erscheinender Spuk, ein echtes, anfaßbares Gespenst. Sein deformiertes Gesicht glotzt aus schreckensleeren Augen ins Ungewisse. Petrick-Kenner erkennen die Gestalt wieder. Die Figur des alten Mannes ist die gleiche, die in manchen seiner Zeichnungen wiederholt vorgekommen ist, z.B. in dem Bild „Vogelauge“. Es scheint so, als sei das Alptraumgebilde jener unerlösten Gestalt nun höchst persönlich erschienen, wenn auch nicht in Fleisch und Blut, so doch als ausgetrocknete Mumie einer bedrückenden Erinnerung.

Der untote Alte begegnet sich selbst. Sein Blick trifft in sein übergroßes Spiegelbild, das ihm von einer unsichtbaren Hand entgegengehalten wird, eine grauenhaft zwangvolle Selbstbespiegelung, von einem bösen Zauber herbeigeführt - das Unheil am Grunde des Dickichts. Die Figur des erstarrten Mannes in der Modergrube ist umsponnen von den Geweben des Verfalls. Rings um ihn sind Wand und Boden mit allem möglichen Gerümpel angefüllt, das sich bei näherem Hinsehen großstadtbiographisch entschlüsseln läßt: Abhub und Auswurf der Zivilisation und ihrer Produkte. Seien es technische Gebilde wie Manometer u.ä., seien es ganze kleine Szenen, Kämpfe, von Kunststoffsoldaten ausgeführt. Aus dem Kellerkasten ragt hinter dem Spiegelbild des alten Mannes ein Arm heraus ins Freie, dessen Faust ein Messer fest umklammert hält, - Konzentrat der Aggression, Selbstzweck und Abwehr zugleich. Zwischen Mörder und Ermordeten besteht hier kein Unterschied mehr. Die hier leben, sind Täter und Opfer in einem. Petrick hat es verstanden, für die Herstellung seiner Assemblage einen Prozeß der Versinterung zu erfinden, der fast alchemistische Qualität hat. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, eine Art Fermentation habe stattgefunden, aber nicht auf dem Weg der Fäulnis, sondern auf dem der Mumifizierung. Die Schreckensgestalt in Petricks Kiste ist das Inbild der äußersten Vereinzelung und Vereinsamung im Dickicht der Städte.

Der zweite Kasten zeigt einen ebensolchen Zustand der Verrottung, beinahe schon jen- und hinterseits des Daseins von Menschen, - eine Hinterlassenschaft, ein Requiem im Wartestand. Hinter einem dichten Flor von Spinnweben ist vage noch die Gestalt einer alten Frau erkennbar. In den Spuren verfallener Menschentätigkeit krabbeln die Insekten. Zur Umgebung des Environments gehören Gemälde. Sie bilden die Folie und den Horizont des Ganzen, Darstellungen von technischen und zivilisatorischen Prozessen, den Geräten dazu und den Symbolfiguren menschlicher Entfremdung, die daraus folgt. Bekannte Zitate aus Petricks eigenen Arbeiten finden wir hier wieder. Auch für ihn tragen diese Bilder in der Auseinandersetzung mit Dix autobiographische Züge. Er zitiert nicht nur sich selbst, er zitiert auch Dix, so z.B. mit der Hereinnahme der Gestalt des Saxophonspielers; gleich neben dem Saxophonspieler hat er sein Selbstbildnis angebracht, und in den anderen Teilen - hergestellt in einer Mischtechnik aus Zeichnung und Malerei - finden sich Bildnisse seiner Frau und seiner Tochter. In der Dichte des Amalgamierungsprozesses mit allen zur Verfügung stehenden künstlerischen Mitteln erhält die Arbeit Petricks beinahe den Charakter einer Beschwörung. Ein weiterer Teil des Ensembles zeigt eine warnende Zukunftsvision, die Ausgeburten der Schönen Neuen Welt im Falle einer Entwicklung ohne Umkehr und Ausweg - die Prototypen des vollsynthetisch funktionierenden Menschen.

Eberhard Roters